gotische Architektur in Europa: Von Canterbury bis Kuttenberg

gotische Architektur in Europa: Von Canterbury bis Kuttenberg
gotische Architektur in Europa: Von Canterbury bis Kuttenberg
 
Zur selben Zeit hervorgegangen aus den gleichen anglonormannischen Wurzeln, war die Gotik Englands ebenso innovativ wie die französische, gewissermaßen deren gleichberechtigte Partnerin. Das übrige Europa sah sich hingegen mit dem gotischen Architektursystem als etwas Fertigem konfrontiert und konnte es nur noch übernehmen oder darauf reagieren. Das gilt für das Heilige Römische Reich ebenso wie für die Länder am Mittelmeer.
 
Die zwischen 1174 und 1184 errichteten Ostteile der Kathedrale von Canterbury stellen das erste Hauptwerk der englischen Gotik dar. Hier zeigen sich mit einem Schlag deren Besonderheiten: eine stärker betonte Zweischichtigkeit beziehungsweise Plastizität der Wand als in Frankreich und dementsprechend ein größerer Profilreichtum. Das ergibt zusammen mit der Verwendung farblich verschiedener Steine das Bild eines großen Reichtums. Dies ist auch wörtlich nehmen: Die englischen Diözesen waren im Mittelalter ganz besonders vermögend, und so konnten sie sich die teuersten Kathedralen leisten. Man hat ausgerechnet, dass die Herstellung einer englischen Kathedrale des 12. und 13. Jahrhunderts mit ihrer überaus aufwendigen Profilierung das Mehrfache eines vergleichbaren französischen Bauwerks gekostet haben muss - obwohl die englischen Kathedralen immer relativ niedrig blieben. Den Verzicht auf französische Gigantomanie aber haben die englischen Architekten und ihre Auftraggeber durch eine extreme Länge ausgeglichen, die sie den bedeutenden Sakralbauwerken verliehen. Englische Kathedralen erhielten überdies nach dem Vorbild der dritten Abteikirche in Cluny, der größten Kirche des Mittelalters, häufig zwei Querhäuser. Allein schon das zeigt den ungeheuren Anspruch, der hinter den Hauptwerken der insularen Gotik steht.
 
Wie die Chronik des Mönchs Gervasius berichtet, ist der Chor von Canterbury der Konzeption und zur Hälfte der Ausführung nach das Werk eines Franzosen, Wilhelms von Sens. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass die englische Kathedralgotik vom späten 12. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts in erster Linie eine Auseinandersetzung mit Canterbury bedeutet. Diese Kathedrale war als Sitz des Primas von England die Mutterkirche der Insel und nahm damit ein Ausnahmestellung ein, die nur noch der Erzbischof von York für seine Kathedrale beanspruchte. Wilhelm von Sens wählte für das Mittelschiff nicht den vierteiligen, sondern den dreiteiligen Aufriss, wohl um den neuen Chor dem romanischen Langhaus anzupassen. Er setzte auf hohe Arkaden relativ niedrige Emporen, die im Chorrund in ein Triforium übergehen, und versah die Zone der Hochschifffenster mit einem Laufgang. Bis ins frühe 14. Jahrhundert behielten fast alle großen Sakralbauten Englands die Doppelschaligkeit der Wand im Gewölbebereich. Das setzte immer eine verhältnismäßig große Mauerdicke voraus, was wiederum dazu führte, dass alle Öffnungen mit einer Vielzahl von Profilen in die Wand eingestuft wurden.
 
Wie stark das Early English, die erste Phase der insularen Gotik, noch von der Romanik geprägt wurde, zeigt sich auch am Außenbau. Auch die 1220 begonnene Kathedrale von Salisbury folgt, zusammengesetzt aus lauter rechteckigen Baublöcken, die in abgewogenen Verhältnissen zueinander stehen, immer noch dem additiven Prinzip romanischer Architektur. Auch ein aufwendiger Verstrebungsapparat war aufgrund der relativ geringen Höhe der Baumasse nicht nötig, und so konnte der Eindruck eines zerklüfteten Gebirges vermieden werden, welche die gigantischen Strebepfeiler in Amiens, Beauvais oder Köln hervorrufen. Große Rosenfenster tauchen in England sehr selten auf. Die Kathedrale von Lincoln wetteifert in dieser Hinsicht unzweideutig mit Chartres. Das westliche der beiden Querhäuser von Lincoln ist für sich allein schon so lang wie eine größere gotische Stadt- oder Abteikirche. Zusammen mit Chor und Langhaus folgt es dem Vorbild von Canterbury, aber es bereichert dessen Aufriss durch eine Vielzahl von Wandeinstufungen und Profilen. Viel früher als in der französischen Gotik kommt es hier zur Bildung von Bündelpfeilern, von Stützen also, deren runder Kern durch einen Kranz dicht aufgereihter dünner Säulchen umstellt wird. Die Innenwände der Querhausfassaden halten sich ebenfalls an die Geschosseinteilung der gesamten Kathedrale. Die Empore wird an dieser Stelle zum durchfensterten Laufgang, dessen spitze Lanzettenöffnungen kennzeichnend für das Early English sind.
 
Während im 14. Jahrhundert in Frankreich die Innovationsfreudigkeit abnahm, erlebte England geradezu einen Boom neuer Ideen. Eines der wichtigsten Werke des Decorated style, wie die zweite Phase der insularen Gotik genannt wird, ist der zwischen etwa 1320 und 1340 erbaute Chor der Kathedrale von Wells. Die kohärente Gitterstruktur, wie sie in Frankreich der »Style rayonnant« eingeführt hatte, wurde konsequent weiterverfolgt. Die Zweischaligkeit der Fensterzone erstreckte sich nun auf den gesamten Aufriss, denn die Maßwerkbespannung zwischen Arkaden und Hochschifffenstern erscheint als durchsichtiges, unabhängig vor die Wand gestelltes Gitter. Das vielteilige metallisch-dünne Maßwerk flimmert im gedämpften Licht des Innenraums, sodass dieser seine festen Grenzen verliert. Auch das neue engmaschige Netzgewölbe trägt zu diesem Eindruck bei. Die völlige Vereinheitlichung von Wand, Öffnungen und Decke treibt der Perpendicular style, die englische Spätgotik, beharrlich weiter.
 
Die Gotik in den Ländern des Heiligen Römischen Reiches lässt bis zum 14. Jahrhundert eine mehr oder weniger kontinuierliche Entwicklung, wie sie Frankreich und England zeigen, völlig vermissen - es haftet ihr in jeder Hinsicht etwas Sprunghaftes an. Deutschland, dessen Romanik besonders im Rheinland, in Westfalen und in Niedersachsen zwischen etwa 1150 und 1230 eine besonders reiche Spätblüte erlebte, empfand anfänglich wenig Neigung, das »neue Bauen« aus Frankreich zu übernehmen. Ausgerechnet im Osten des Reiches, an der Elbe, entstand ab 1209 mit dem Dom in Magdeburg das erste Werk auf deutschem Boden, das sich ernsthaft mit der Gotik auseinander setzte; deren Formen wurden hier aber wieder zurück ins Romanisch-Massive übertragen. Im Rheinland zeigte man sich seit etwa 1200 allenfalls dazu bereit, einige wenige aus der westlichen Gotik bezogene Formeln innerhalb eines romanischen Gesamtzusammenhangs anzuwenden und damit zu verfremden.
 
Dass die Zisterzienser - wie man immer wieder behauptet hat - als Förderer der Gotik in Mitteleuropa betrachtet werden müssen, stimmt nur bedingt. Denn die im 12. Jahrhundert als Gegenmodell zur kluniazensischen Romanik Burgunds konzipierte Baukunst der »weißen Mönche« nahm zwar schon früh Elemente auf, die zum Repertoire der Frühgotik gehörten, vor allem den Spitzbogen und das Kreuzrippengewölbe. Mit ihrer Massivität blieben aber die Zisterzienserbauten noch lange der Romanik verpflichtet. So fallen die wenigen gotischen Elemente (vor allem Fensterformen und Gewölbe), die der Bauleitung des Langhauses und des Westteils am Dom in Bamberg durch die benachbarte Zisterzienserabtei Ebrach vermittelt worden waren, innerhalb des romanischen Gesamtkonzepts wenig auf - ausgenommen die Westtürme. Kurz vor 1235 entstanden, gehören sie aber bereits einer Zeit an, in welcher man in Deutschland mehrmals versuchte, den gesamten Formenschatz der klassischen Hochgotik an Bautypen anzuwenden, die man in Nordfrankreich für unvereinbar mit dem neuen Stil hielt. So bedient sich die 1235 begonnene Elisabethkirche in Marburg zwar der fortschrittlichsten Formen aus Reims und Paris, aber ihre Kombination von Dreikonchenchor und Hallenkirche wäre in den Kernlanden des neuen Stils für unmöglich gehalten worden. Auch bei der nur ein paar Jahre älteren Liebfrauenkirche in Trier gehen fast alle Einzelformen, insbesondere die Kapellen, die zweiteiligen Maßwerkfenster und die Pfeiler im Inneren, auf die Kathedrale von Reims zurück, aber sie werden in einem baulichen Kontext verwendet, der ihre französische Herkunft beinahe vergessen lässt.
 
Nur in ganz wenigen Fällen - man kann sie an einer Hand abzählen - betrachtete man in Deutschland die Gotik des »Style rayonnant« als absolut verbindliche Norm. Aber keines der zu dieser kleinen Gruppe gehörenden Bauwerke kopiert nur ein einziges westliches Vorbild. Man entwickelte vielmehr Gegebenheiten der Rayonnant-Gotik auf deutschem Boden im französischen Sinne weiter. Am Langhaus des Münsters in Straßburg drückt sich diese Absicht besonders deutlich aus. Freilich lehnt sich dieser Teil der elsässischen Kathedrale sehr eng an den kurz zuvor begonnenen Neubau von Saint-Denis an, die Maßwerkkompositionen verraten aber eine genaue Kenntnis von zeitgenössischen Werken der Champagne. In der norddeutsche Tiefebene erzwang allein schon das Baumaterial, der Backstein, eine entschiedene Reduktion der komplexen Formenwelt westlicher Vorbilder. Die Stadtkirchen der Hansestädte sind häufig Basiliken, deren Dimensionen auch den größten französischen Kathedralen in nichts nachstehen. Angesichts der gigantischen Höhe wirken die meistens auf wesentliche Grundformen zurückgeführten Pfeiler sowie die mit lang gezogenen Fenstern, Nischen und Blenden gestalteten Wände überwältigend. Es gab aber auch im Backsteingebiet immer wieder Versuche, zumindest den Außenbau reich zu schmücken.
 
In der deutschen Architektur des 14. bis 16. Jahrhunderts spielt die mehrschiffige Halle eine überragende Rolle. Mit ihren gleich hohen oder leicht gestaffelten Schiffen wurde sie die bevorzugte Form für die großen Pfarrkirchen der Städte. Es wäre falsch, dies politisch zu deuten und zu meinen, es handle sich um eine »demokratische« Raumform. Dagegen sprechen allein schon die zahlreichen fürstlichen Stiftungen für den Bau von Hallenkirchen. Die Hallenkirche hatte in Deutschland eine bis in die Romanik zurückreichende Tradition, und sie war gegenüber der Basilika die ökonomischere Bauform. Sie erlaubte es, Gotteshäuser von einer monumentalen Größe und Weite herzustellen, wie es das Selbstverständnis der Städte verlangte, ohne dass ein aufwendiger Hochschiffteil mit einem komplexen Strebewerk Unsummen an Geld verschlang. In der Zeit um 1400 war es vor allem der geniale Baumeister Hans von Burghausen, der mit seinen großartigen Raumschöpfungen dem Bautypus der Halle zu einem durchschlagenden Erfolg in Süd- und Mitteldeutschland verhalf. Einen der vielen Belege dafür liefert die Martinskirche in Amberg. Sie wurde ab 1421 von einem Architekten errichtet, der aus dem Umkreis des Hans von Burghausen stammt. Von dessen Salzburger Franziskanerkirche übernahm er die an der gesamten Außenwand umlaufende Empore, die für die Spätgotik Sachsens und Böhmens wichtig werden sollte. Wie groß die Rolle Böhmens für die Entwicklung der Spätgotik war, stellt nicht nur im 14. Jahrhundert der berühmte Veitsdom in Prag unter Beweis, sondern auch noch der im frühen 16. Jahrhundert erfolgte Ausbau der Barbarakirche in Kuttenberg.
 
Italien, das selbst zur Zeit der Romanik noch lange am Ideal der frühchristlichen Basilika festhielt, öffnete sich der Gotik nur zögernd. Den Italienern, deren Sehgewohnheiten stets von der körperhaften Plastizität antiker Architektur bestimmt wurden, blieb sie im Grunde immer fremd. Was die Italiener an der Gotik störte, war die lichtdurchflutete Leichtigkeit ihrer Struktur. Selbst die wenigen Bauwerke Oberitaliens, die bereits im frühen 13. Jahrhundert das neue Architektursystem übernahmen - etwa Sant'Andrea in Vercelli oder San Francesco in Bologna -, sehen »ungotisch« aus, weil die Stützen wenig oder gar nicht gegliedert sind und die Gewölbevorlagen voluminös aus der nackten, spärlich durchfensterten Wand herausspringen. Erst im späten 13. Jahrhundert wurde in Italien der Versuch gewagt, die zarte Feingliedrigkeit der Gotik einzufangen. Das betraf vor allem einige Fassaden, unter denen die kurz vor 1300 begonnene des Doms von Orvieto in jeder Hinsicht die »gotischste« ist. Sie bedient sich in der Portalzone des Motivs der Giebelkulisse, die das Erdgeschoss der beiden Querhausfassaden von Notre-Dame in Paris bestimmt. Während dort aber die Giebelkette membranartig dünn und losgelöst vor der eigentlichen Wand aufragt, erscheint sie in Orvieto als reliefartig behandelter Teil der Fassadenmauer selbst. Die Rose, die in Paris wie eine strahlende Sonne die Grenzen der Fassade zu sprengen droht, wird in Orvieto als winziges Radfenster von mehreren dicken Rechteckrahmen wie ein Kleinod eingefasst.
 
Ganz anders als in Italien verlief die Adaptation des neuen Formensystems auf der Iberischen Halbinsel. Nach einer ersten Phase im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert, in der man sich eher an Vorbildern der peripheren Gotik Burgunds als an solchen der Île-de-France orientierte, wurde seit 1230 in den vereinigten Königreichen Kastilien und León das Vorbild der französischen Kathedrale vorbehaltlos übernommen. Für die Kathedralen von Burgos und Toledo war die Metropolitankirche von Bourges das große Leitbild, deren Schema allerdings mit Elementen der klassischen Hochgotik durchsetzt und auch in räumlicher Hinsicht abgewandelt wurde. Das reinste Beispiel französischer »Exportgotik«, das außer dem Kölner Dom jemals in Europa gebaut worden ist, bietet zweifellos die Kathedrale in León. Als Hauptkirche einer ehemaligen Königsresidenz bildet sie programmatisch eine Synthese aus der Krönungskathedrale von Reims und der Abteikirche von Saint-Denis, der Nekropole der französischen Könige. Nachdem es in Spanien möglich geworden war, französische Leitbilder derart souverän zu einem neuen Ganzen zu verschmelzen, konnte man bald einmal Vorlagen gänzlich entbehren: Im frühen 14. Jahrhundert wurde die iberische Gotik eigenständig und wie die englische ausgesprochen innovativ.
 
Prof. Dr. Peter Kurmann
 
 
Die gotische Architektur in Frankreich, 1130—1270, Beiträge von Dieter Kimpel und Robert Suckale. Studienausgabe München 1995.
 
Das Jahrhundert der großen Kathedralen, 1140—1260, bearbeitet von Willibald SauerländerMünchen 1990.
 
Triumph der Gotik, 1260—1380, bearbeitet von Alain Erlande-Brandenburg. Aus dem Französischen. München 1988.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Нужно сделать НИР?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Architektur der Gotik — Die Kathedrale Notre Dame de Reims, ein herausragendes Beispiel französischer Gotik Lichtdurchfluteter Raum: Chor des …   Deutsch Wikipedia

  • Gotische — Die Kathedrale Notre Dame de Reims, ein herausragendes Beispiel französischer Gotik Lichtdurchfluteter Raum: Chor des …   Deutsch Wikipedia

  • Hochgotik — Die Kathedrale Notre Dame de Reims, ein herausragendes Beispiel französischer Gotik Lichtdurchfluteter Raum: Chor des …   Deutsch Wikipedia

  • Spätgotik — Die Kathedrale Notre Dame de Reims, ein herausragendes Beispiel französischer Gotik Lichtdurchfluteter Raum: Chor des …   Deutsch Wikipedia

  • Spätgotisch — Die Kathedrale Notre Dame de Reims, ein herausragendes Beispiel französischer Gotik Lichtdurchfluteter Raum: Chor des …   Deutsch Wikipedia

  • Gotik — Hochgotische Kathedrale Notre Dame de Reims, ein herausragendes Beispiel französischer Gotik …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”